Mitakien

Ryoanji

Natürliches Gartendesign und
die Natur als Garten

Die Gartenästhetik der Japaner, wie sie sich etwa in den Gärten des Ryoanji- und des Kinkakuji-Tempels in Kyoto offenbart, basiert auf der Nachbildung einer Naturszenerie in Form eines ungezwungenen, ungebrochenen Arrangements. In Europa hingegen richtet man den Fokus auf die Neugestaltung von Natur nach einem von Menschenhand entworfenen Design. Dieser Unterschied zwischen den beiden Kulturen liegt vorrangig in ihrer Auffassung der Beziehung zwischen Mensch und Natur begründet. Asiaten betrachten die Natur nicht als etwas, das vom Menschen beherrscht oder geordnet werden muss, sondern als einen Ort, an dem “der Mensch existieren darf”. Die Gärten der Tempel und Schreine in Kyoto wurden gemäß dieser Philosophie entworfen, damit der Mensch diese Auffassung von seiner Beziehung zur Natur selbst in einer Großstadt kultivieren kann. Etwa anders verhält es sich mit Mitaki-en in Tottori, wo ein Ort geschaffen wurde, an dem der Mensch inmitten der natürlichen Umwelt existieren darf, was der Pflege desselben ästhetischen Empfindens dient.


Der Garten als Ausdruck östlicher Philosophie  

Im Gegensatz zur monotheistischen Weltsicht der großen westlichen Religionen herrscht im östlichen Asien noch immer die Vorstellung vor, dass um uns herum viele Götter existieren. Insbesondere in Japan ist der Polytheismus kein Konzept, das Götter als menschenähnlich einstuft, sondern vielmehr als Naturphänomene, etwa Felsblöcke oder große Bäume als Götter an und für sich. Viele Japaner zollen der vielgestaltigen Natur und Objekten, die eine längere Lebensdauer haben als der Mensch, noch immer großen Respekt. Der Buddhismus war ursprünglich keine in Japan beheimatete Religion, doch da er die Götter Japans nicht verwarf, wurde er relativ schnell von den Einheimischen angenommen. Dieser ostasiatische Geist spiegelt sich besonders gut in den herrlichen Gärten wider, wie man sie bei den Schreinen und Tempeln in Kyoto und Nara findet. Viele dieser Gärten bilden das natürliche Landschaftsbild nach, indem sie Teiche, Felsen und Bäume einbeziehen. Dies hat seine Ursache darin, dass die Menschen, die in einem urbanen Umfeld leben, eine tiefe Sehnsucht nach jenem Bewusstsein haben, das die Natur respektiert. Der Steingarten des Ryoanji-Tempels in Kyoto bildet ausschließlich anhand von Felsen und Steinen die Natur so wirkungsvoll ab, dass der Mensch in seiner Vorstellung eins mit ihr werden kann, obwohl die sich ihm unmittelbar darbietende Szenerie nicht inmitten der Natur ruht. Die Ermöglichung dieses Gefühls der Verschmelzung mit der Natur an einem von der natürlichen Umgebung abgesonderten Ort verkörpert das höchste Prinzip östlichen Denkens. 


Die Kultur der Nachbildung und Wertschätzung von Natur in der kleinen Welt der Bonsai- und Miniaturgärten entspringt ebenfalls diesem Gedankengut. Es steht in starkem Gegensatz zu der westlichen Ästhetik, wie man sie in den Gärten von Klöstern und Schlössern vorfindet, etwa jenen von Versailles. Mit diesem im Westen entwickelten Konzept von Schönheit wurde die Natur systematisch gemäß den eigenen Vorlieben neu gestaltet. Im westlichen Kulturkreis formt man die Natur so um, dass sie dem Schönheitsbegriff entspricht, während man im Osten darauf bedacht ist, die der Natur bereits innewohnende Schönheit nachzubilden. Nachdem Claude Monet Bekanntschaft mit der in japanischen Gärten realisierten Naturnachbildung gemacht hatte, gestaltete er seinen eigenen Garten nach diesem Vorbild und verwendete ihn anschließend als Grundlage für viele seiner Gemälde. 

 

Der Wald an sich ist der ideale japanische Garten 

Auf der anderen Seite hat der Respekt vor der Natur die Menschen in den weitgehend unberührten Gegenden außerhalb der urbanen Zentren zu dem Glauben veranlasst, dass die Natur den Göttern gehört und ihre Zerstörung einem Frevel gleichkommt. In großen Städten wie Tokio und Kyoto, wo sich die Menschen ihre eigene Umwelt geschaffen haben, ist die Nachbildung von Natur in den Gärten der Schreine und Tempel ein Weg, um die Natur in ihr Leben zurückzuholen. In den ländlicheren Gegenden bildete sich dagegen die Auffassung aus, dass Felder und Häuser in einer Weise angelegt werden müssten, die die natürliche Umwelt so wenig wie möglich beeinträchtigt. Hier in San’in gilt die Gegend von Izumo als Heimstatt der Götter und als Ort, an dem diese einmal im Jahr zusammenkommen. So verwundert es nicht, dass im Umkreis von Izumo die Überzeugung, dass der Natur höchster Respekt gebührt, starker ausgeprägt ist als in anderen Teilen Japans.


Hinzu kommt, dass sich der Legende nach im zehnten Monat des alten japanischen Kalenders alle Götter in San’in versammeln, weshalb diese Zeit in anderen Teilen Japans auch “der Monat ohne Götter”, in San’in jedoch “der Monat der Götter” heißt. Hieraus leitet sich das Selbstverständnis von San’in als einem gottgewählten Landstrich her. Die Einstellung, dass der Natur Respekt und Achtung gebühren, wird in Mitaki-en sichtbar, wo Gebäude, Wege und verschiedene andere Einrichtungen so angelegt wurden, dass die natürlichen Merkmale des umgebenden Waldes davon unberührt blieben.


Neben einem murmelnden Bach, der sich im Laufe der Zeit sein Bett durch die Felsen gegraben hat, steht ein Haus mit einem moosbedeckten Strohdach und einer traditionellen japanischen Feuerstelle (irori). Anstatt eines von Menschenhand geschaffenen Raumes nimmt der Betrachter dieses Bauwerk als eine Konstruktion wahr, die gerade durch den Einfluss und die Kraft ihrer natürlichen Umgebung in ihrer Schönheit aufgewertet wird. Im Garten plätschert sacht ein Wasserfall, und der Umstand, dass man hier ein traditionelles ländliches Mahl genießen kann, während man sich gleichzeitig an der Szenerie erfreut, die zu seiner Entstehung beitrug, birgt den Reiz einer tiefgründigen Wahrheit.

Wo liegtSAN’IN